Berlin
Da fährt die Hochbahn in ein Haus hinein
Und auf der andern Seite wieder raus.
Und blind und düster stemmt sich Haus an Haus.
Einmal - nicht lange - müßtest du hier sein.
Wo das aufregend gefährlich flutet und wimmelt
Und tutet und bimmelt
Am Kurfürstendamm und am Zoo.
Das Leben in Pelzen und Leder.
Es drängt einen so oder so
Leicht unter die Räder.
Sonst habe ich gut hier gefallen.
Man hat mir hohe Gagen angeboten.
Aber weißt du: jeder verkehrt hier mit allen,
Nur nicht mit stillen Menschen oder mit toten.
Ich bin so stolz darauf, dir einen Scheck zu
überweisen.
Ja, ja, hier heißt es sich durchbeißen.
Das gibt mir mancherlei Lehre.
Heute ging mir beim Kofferflicken die Nagelschere
Entzwei. Not bricht Eisen. -
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Der Alexanderplatz 1932
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Text
Das
Gedicht, Berlin, von Joachim Ringelnatz beginnt mit einer
Beschreibung von einer Hochbahn, die durch die Mauer eines Hauses fährt.
Berlin wird als eine sehr aktive Stadt, in der es viel ‚tutet und
bimmelt’, bezeichnet. Die Menschen haben genügend Geld und
können sich Pelze und Leder leisten. In der zwölften Zeile
verkündet der Autor, dass er sogar Gagen für seine Arbeit bekommt.
Das würde in schweren Zeiten der Armut nicht geschehen.
Jedoch beschreibt Ringelnatz auch die andere Seite von Berlin.
In der dritten Zeile redet er von den Häusern, die sehr dicht
nebeneinander errichtet wurden und sehr beengt sind. Berlin hat zwei
Gesichter. Erstens ist Berlin eine Stadt in der alles möglich
ist. Man kann sich ein gutes Leben erarbeiten und ein gemütliches
Leben führen. Doch auf der anderen Seite kann diese Stadt
auch genauso schnell dein Ende sein. Ringelnatz beschreibt
diese Idee sehr deutlich in der neunten und zehnten Zeile.
‚Es drängt einen so oder so. Leicht
unter die Räder’. Dieses zweite Gesicht von Berlin kann auch als
eine Vorwahnung auf die wirtschaftliche Katastrophe von 1932 und
1933 sein. Dies wird weiterhin damit unterstützt, daß in der
nächsten Zeile ‚Sonst habe ich gut hier gefallen’, in der die
Grammatik nicht fliesst. Das Ziel dieser falschen
Grammatik ist es, dem Leser wieder zwei verschiedene Bilder zu
zeigen. Erstens könnte es bedeuten, dass das "Ich"
im Gedicht hingefallen ist, eine Konsequenz der Stadt, oder das ihm
Berlin wirklich als Stadt gefällt. Ringelnatz endet das Gedicht mit
einem Bild, das man als Hinweis nehmen kann. In Berlin muss
man die Zähne zusammenbeißen und stark in den Zeiten der Not sein.
"Not bricht Eisen" zeigt, dass obwohl man so stark wie
Eisen sein kann, die Not alles zerbrechen kann.
Dieses
Gedicht ist typisch für die Neue Sachlichkeit. Man sieht, das
die Zeit von Beschleunigung, Rationalisierung und der
Gleichzeitigkeit von verschiedenen Erlebnissen geprägt ist.
Zusätzlich, sind die Redewendungen und der moderne Sprachstil
charakteristisch für die Neue Sachlichkeit. Im Gegensatz zum
ernsten, pathetischen Stil der Vergangenheit deutet der Humor von
Ringelnatz auf eine ,Neue Sachlichkeit’ hin. |